Spiritualität – eine Führungskompetenz?

Themen, über die man lieber nicht spricht

Es gibt Themen, über die spricht man im Job nicht. Dazu gehört ganz klar Sex. Nicht, weil wir zu verklemmt wären, sondern weil Hingabe und Ekstase ihre Besonderheit verlieren, wenn man sie montags mit den Frühstücksstullen teilt. Ein nützliches und rücksichtsvolles Tabu, finde ich.

Viele sagen, über Politik solle man lieber auch nicht sprechen. Das würde ich nicht so eng sehen. Ich bin Verfechterin einer engagierten Zivilgesellschaft. Da tut es mir gut, zu wissen, dass das Erstarken rechts außen meine Kunden genauso besorgt wie mich. Und ich halte sehr freundlich und bestimmt gegen, wenn ein Seminarteilnehmer Sprüche klopft, die Feindseligkeit schüren. Gleichzeitig verstehe ich jeden, der sagt: „Das ist mir zu heiß, über Politik spreche ich nicht in der Firma.“

Sonntagsfrühstück statt Kirchgang

Und wie ist es mit Religion und Spiritualität? Noch vor 50 Jahren war die Religionszugehörigkeit ein Muss, die am Sonntag sichtbar mit dem Kirchgang belegt wurde. Spiritualität wurde mit Okkultismus gleichgesetzt und galt als suspekt, als Spinnerei. Da hat sich viel geändert! Die Kirchen sind heute recht leer. Glaube ist nicht mehr Pflicht und das gemeinsame Sonntagsfrühstück ist für viele Menschen einer der Höhepunkte der Woche. Unglücklicherweise ist exakt zu diesem Zeitpunkt des Gottesdienste terminiert. So wird eine mögliche Zwiesprache mit Gott verschoben. Er hat ja zu Glück immer ein offenes Ohr.

Wie groß ist der Anteil spriritueller Führungspersönlichkeiten?

Raten Sie mal: Ist Spiritualität unter vernunftbegabten, weltoffenen Führungskräften ein Thema? Ich frage im Coaching seit 20 Jahren nach der spirituellen Verbundenheit, gerade wenn es um Krisen und komplexe Veränderungsprozesse geht. Was vermuten Sie, wieviel Prozent meiner Kunden sagen, sie seien spirituell? Und? Es sind einhundert Prozent. Meist mit weichen Formulierungen. Sinngemäß so: „Ich bin nicht wirklich gläubig, aber dass es da was Größeres gibt, das glaube ich schon.“ Nun sind Personen, die für sich ein Coaching in Anspruch nehmen, natürlich nicht repräsentativ. Diese Menschen denken über sich und ihre Wirkung nach. Sie wollen ihr Leben in die Hand nehmen. Lernen gern dazu. Aber meine Kunden sind definitiv auch kritisch, gut informiert und stehen mit beiden Beinen gut im Leben. Vernunftbegabt.

Spiritualität privat

Ich vermute, auf die eine oder andere Weise sind die meisten von uns spirituell. Es weiß nur keiner, weil wir i.d.R. nicht offen drüber sprechen. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil spirituelle Praktiken so vielfältig sind, wie die Menschen selbst. Und daher – anders als der Kirchgang um zehn – nur schwer zu erklären und zu teilen. Vielleicht, weil wir Deutsche im Selbstbild so vernünftig und so rational sind und man aus Erfahrung weiß, dass Spiritualität rationaler Kritik niemals stand hält. Vielleicht, weil es in unserer Menschheitsgeschichte sehr neu ist, dass jeder glauben darf, was er möchte, ohne ausgegrenzt oder gar verfolgt zu werden. Da schweigt man lieber über die sehr persönliche Verbundenheit mit etwas Größerem. Kann es so nicht bleiben? Müssen wir unsere spirituelle Anbindung ans Licht zerren und mit Kollegen teilen? Doch, eigentlich kann es so bleiben. Das Private soll privat bleiben dürfen.

Spiritualität in der Krise

Doch für Führungspersönlichkeiten gilt eine Ausnahmen. Sie sollten m.E. Ahnung von Führung mit spirituellem Hintergrund haben, um ihre Mitarbeiter/innen in existenziellen Krisen gut begleiten zu können. Denn jeder Mensch, der mit Abschied, Tod und Trauer konfrontiert ist, denkt intensiv über die spirituelle Dimension des Lebens nach. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist ein spirituelle Frage. Und jede Witwe, jeder Witwer stellt sie sich. Es gibt auch eine spirituelle Praxis, die sehr viele Trauernde teilen: Sie reden mit ihren Verstorbenen. Rational ist das nicht! Ob die älteren Damen auf dem Friedhof mit ihrem Karl-Heinz oder gleich mit Gott sprechen – ich habe dieses Gemurmel früher für ein Privileg des Alters gehalten. Irrtum. Wer mit Abwesenden spricht, ist nicht etwa tüddelig, wie wir im Norddeutschen sagen. Sondern sehr gesund. Es tut der Psyche sehr gut, Trauer durch intensive Gespräche mit der verstorbenen Person oder einer höheren Instanz zu teilen. Die Uni Tel Aviv hat in einem Forschungsprojekt herausgefunden, dass Gespräche, ja, richtig gehende Auseinandersetzungen mit den Verstorbenen sehr heilsam sind. Dabei ist die Frage, ob die Verstorbenen diese Ansprachen hören können oder es sich hier um eine Wunschvorstellung handelt, völlig egal! Das fand ich persönlich interessant: Es geht nicht drum, ob Spiritualität einen rationalen Boden hat oder Spökenkiekerei ist. Es geht einzig darum, was in der Trauerkrise hilft.

Durchgeknallt oder gesund?

Ich selbst habe in den ersten drei Tagen nach dem Tod von Christian in langen Selbstgesprächen über ihn gesprochen. Was ich an ihm schätzte, was mich berührte, was mich ärgerte – stundenlang. Und dann hatte ich eine Art Eingebung: Ich könne doch direkt mit ihm sprechen. Ich zögerte. Ich bin ja auch eher ein nüchterner Mensch. Und tat es dann doch. Und siehe da: Die Wochen um Wochen, die ich mit Christian gesprochen habe, taten mir gut. Ich kann aber nicht verhehlen, dass mich die ganze Zeit ein Zweifel begleitete, ob ich nicht doch meschugge bin. Später las ich dann, dass viele Trauernde befürchten, zu spinnen, wenn sie mit ihren Verstorbenen sprechen. Da braucht es ein spirituell gebildetes Gegenüber, dass einem versichert: Es ist alles in bester Ordnung. Was gut tut, ist erlaubt. Das zu lesen hat mich damals tatsächlich beruhigt. In Gesprächen mit körperlich nicht Anwesenden eine unterstützende Verbindung zu suchen, ist sicher nur ein sehr kleiner Aspekt von Spiritualität. Spiritualität beginnt da, wo es auf zentralen Fragen des Lebens keine verbindlichen Antworten geben kann, z.B.:
  • Warum sind wir hier?
  • Was ist der Sinn des Lebens?
  • Was gibt mir Kraft?

Spiritualität im Alltag

Viele Menschen gehen in die Berge oder ans Meer und sagen: Das gibt mir Kraft. Der weite Blick, die Ruhe in der Natur, dann bin ich wieder ganz bei mir. Andere beschreiben, dass Musik ihnen hilft, wieder ganz bei sich anzukommen. Ist das schon Spiritualität? Ja.
Wann immer wir Kontakt suchen zu etwas, was uns mit seiner Schönheit, seiner Kraft, seiner Größe berührt und uns das Gefühl gibt, z.B. eine Last würde von den Schultern abfallen oder Sorgen unbedeutend und klein werden, befinden wir uns in einem spirituellen Kontext.
Noch ein Beispiel: Die einen sagen: „Nach einer Yoga-Stunde bin ich wieder ganz bei mir.“ Da denkt man schnell an das Licht der Bergkristalleuchte, Ohm singen und dann den Körper verknoten. Ist das spirituell? Ja, klar. By the way: Es gibt übrigens auch Yogaangebote ohne Schummerlicht und Sanskrit-Überlieferungen. Andere sagen: „Beim Joggen kann ich super abschalten.“ Funktionskleidung und Herzfrequenzmesser weisen auf einen rationalen Charakter hin. Trotzdem ist diese Art zu sich zu kommen, genau so spirituell wie Yoga oder Mantrasingen. Spirituelle Menschen erkennen Sie daran, dass sie für sich Wege gefunden haben, eine wohlige Leere zu schaffen, die Raum für die persönliche Anbindung oder Entwicklung gibt. Mit einer Tasse Kaffee Löcher in die Luft gucken gehört dann definitiv auch dazu! Ist das nicht ein wenig einfach? fragen Sie. Ich denke, Spiritualität ist ein Grundbedürfnis wie menschliche Wärme oder Schlaf in Geborgenheit. Durch Jahrhunderte von Religionsstreitigkeiten, Gurutum und verbissener Aufklärung wurde es kompliziert. Doch das können wir heute getrost hinter uns lassen. Jetzt bin ich einen langen Gedankenweg gegangen, um zum Eigentlichen zu kommen.

Spiritualität im Beruf

Ich möchte Ihnen als Führungspersönlichkeit nahelegen, die Tür zur Spiritualität sichtbar zu öffnen. Öffnen für:
  • das menschliche Bedürfnis, der Sinnfrage Raum zu geben,
  • die Suche nach Orten, die Frieden geben,
  • das Beisichtragen von Gegenständen, die Schutz versprechen und
  • die empfundene Wahrheit, dass die Seele Aufmerksamkeit durch Ruhe oder Schönheit braucht.
Aber warum? fragen Sie vielleicht skeptisch. An sonnigen Tagen, an denen die Geschäfte gut laufen, die Mitarbeiter/innen gesund und leistungsstark sind und die Geschäftsführung einen klaren Erfolgskurs vor Augen hat, ist der Raum für eine spirituelle Praxis vielleicht gar nicht so wichtig. Aber eine Offenheit, die Sie an diesen guten Tagen vorleben, kann in trüben Tagen von Krankheit, Kündigung, Umsatzeinbußen und Tod zu einem rettenden Anker werden. Wer spirituell gut versorgt ist, ist nachweisbar in Krisen psychisch stabiler. Und so auch lösungsorientierter, offener, herzlicher, leistungsfähiger und weniger anfällig abzustürzen. Spirituell verankerten Menschen fällt es leichter, Krisen als Herausforderung zu verstehen. Und nicht als Angriff auf das eigene Ego. Der Gedanke ist doch ergreifend rational, oder?