Antriebslosigkeit? Sehr gesund!

Ein Vorschlag zur Selbsterforschung

Es gibt Menschen, die seit dem Lockdown effektiv und gutgelaunt im Home Office arbeiten. Und die nach Feierabend noch Energie finden, das Bad zu streichen oder den „Oblomow“ zu lesen, einen Schinken von gut 800 Seiten. Ihnen gilt meine uneingeschränkte Bewunderung.
Oblomow ist ein russischer Bürgersohn, der keine Freude an der Arbeit findet und einfach Tag ein, Tag aus, träge auf dem Kanapee liegen bleibt. Ein hochgelobter Roman von Iwan A. Gontscharow.
Vermutlich gibt es zwei Gruppen von Menschen: Die, die mit Freude diesen Wälzer der Weltliteratur lesen. Und die, die dankbar auf den Klappentext gucken, weil sie sich, schon ohne das Buch zu öffnen, mit dem Mann verbunden fühlen, der sich zu nichts aufraffen kann.
Nein, ich habe Oblomow nicht gelesen.

Müdigkeit im Home Office

Als Selbstständige verschwimmen meine Grenzen zwischen Büro und Home Office seit jeher. Und trotzdem bin ich aktuell abends stolz, wenn es mir gelingt, sagen wir mal: sechs Stunden zu arbeiten. Auch ich habe mir letzte Woche Wandfarbe bestellt. Habe sie ausgepackt, den Umkarton zerkleinert und ins Altpapier gebracht. Jetzt steht sie mahnend im Bad. Bald mit einer Staubschicht auf dem Deckel.
Sich zu bekennen, dass man gerade nicht so viel gebacken bekommt, ist vielleicht ein erster Schritt.
Viele Angestellte mit Oblomov-Neigungung versuchen, ihre tägliche Lustlosigkeit zu verschleiern. Zwingen sich. Haben ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht selbstmotiviert und leistungsstark das Home Office genießen. Spätestes am Wochenende bekommt die Antriebslosigkeit ihren Raum. Trübe Gedanken zum Frühstück. Die Sinnlosigkeit steht im Raum. Stundenlang hockt man vor dem kalten Kaffee. Starrt Löcher in die Luft. Oder nicht mal das.

Ein erster Diagnoseversuch

Ist Ihnen das vertraut? Es ist kein schöner Zustand.
Wer stünde jetzt nicht lieber gutgelaunt auf der Leiter, den Pinsel mit einer schönen Farbe in der Hand?
Aber es liegt nicht in der eigenen Macht. Sicher, wenn man disziplinierter wäre … Die Disziplin, sich selbst überwinden – das klingt für mich bitter. Wer sein Ziel schon vor dem inneren Augen sieht, wer Vorfreude auf das Erreichte spürt, der kann Disziplin für die Durststecken zum erhofften Ziel gut nutzen. Disziplin ist etwas für die Gutgelauten, motivierten.
Doch mir geht es um die, denen die Heiterkeit und Schaffenskraft abhanden gekommen ist. Denen keine Mediatations-App oder gut strukturierte To-Do-Liste Unterstützung bieten kann. Das Wort Depression steht im Raum. Vielleicht nur eine depressive Verstimmung? Das klingt nicht so hart.
So wird schnell aus der Romantik Oblomovs eine erstzunehmende Befürchtung. Depression ist eine Krankheit.
Wer depressiv ist, sollte sich in professionelle Hände zu begeben. Für Depressionen gibt es gute Heilungschancen bzw. gute Möglichkeiten, der Depression die Macht über das eigene Leben zu entziehen.
Zum Glück steigt das gesellschaftliche Wissen, dass sie eine Krankheit ist, nicht eine Mischung aus Spielverderber und mangelnder Disziplin.

Eine leichte Despression, unerkannt

Mir scheint die leichte Depression besonders tückisch. Sie kostet viel Lebensfreude, wirkt aber so ungefährlich, dass viele Betroffene sich oft jahrelang ohne fremde Hilfe mit ihr rumschlagen. Sie leben in trüben Zeiten. Viele leicht Depressive nutzen die Anforderungen von Außen, Termine und Verpflichtungen, um ihrer Krankheit mit viel Kraft zu entfliehen. Die Struktur hilft ihnen über den Tag zu kommen. An einigen Tagen ist dann wirklich alles okay, an anderen handeln sie sich zumindest keine Kritik von außen ein.
Jetzt, in Zeiten des Lockdown, fehlen die Fluchtmöglichkeiten. Die Depression sitzt mit am Tisch, der Tee wird kalt, das Frühstück hat man lustlos verdrückt. Als stünde das Versagen schon im Raum, bevor man auch nur die Hand hebt. Es fehlt die alte Tagesstruktur. Heute ist alles schwer.

Auch möglich: die Antriebsschwäche hält sich zurück, bis man frisch geduscht, nach Kaffee und Müsli, am Notebook sitzt, den Deckel öffnet, die Mails checkt. Und dann kommt sie, legt sich bleischwer auf mich. Wo soll ich nur die Kraft hernehmen, mich auf die vielen Texte zu konzentrieren? Die gefühlt viel zu vielen Kontaktanfragen zu beantworten? Was tue ich jetzt? Wo ist der Fluchtweg?

Sind diese Beschreibungen sichere Zeichen für eine Depression? Nein, das sind sie nicht.
Eine Depression lässt sich nicht mit Hilfe eines Artikels erkennen. Aber dieser Text könnte Depressiven helfen, sich erkannt zu fühlen. Und mit dem bisschen neuer Energie doch einmal über eine Lösung nachzudenken, hoffentlich auch ins Handeln zu kommen.
By the way: Wussten Sie, dass es Online-Therapie-Angebote gibt, die so fundiert sind, dass die Krankenkassen die Kosten übernehmen?

Unmotiviert & gesund

Droht denn allen Unmotivierten und Lustlosen im Lockdown die Diagnose Depression?
Nein. Ganz entschieden: Nein!
Sie können ganz und gar gesund sein und trotzdem eine ungewohnte Antriebslosigkeit registrieren. Es gibt eine zweite Diagnose. Und die ist spannender, als viele zunächst vermuten: Trauer.
Es könnte sein, dass Sie trauern.
Trauer stellt sich ein, wenn man eine bedeutende Person verloren hat. Trauer kann aber auch auf den Verlust der Heimat oder der Arbeit folgen. Mit Sicherheit kann sich Trauer auch nach dem Untergang der herzlichen, aktiven und vertrauten Welt vor Corona einstellen. Wir trauern nicht nur um unsere Verstorbenen. Viele trauern auch über den Verlust der vertrauten Gewissheit einer (fast) heilen Welt.

Das Miteinander nährt die Zufriedenheit

Es gibt in unserer Kultur die Annahme, fleißige, zielgerichtete Arbeit beschere uns nach Feierabend ein zufriedenes Gefühl. Ich halte das für ziemlich konstruiert.
Nur wenige Menschen können sich eine befriedigende Arbeit im menschenleeren Raum vorstellen. Im normalen Joballtag haben wir bis zum Abend viel Herzlichkeit und Verbundenheit mit unseren Kollegen ausgetauscht, Situationen mit hübscher Alltagskomik geteilt, uns gegenseitig mit Verfahrensvorschlägen unterstützt, vielleicht sogar das eine oder andere ein Lob von der Teamleitung gehört. Und mit dem Kaffeeverkäufer geflirtet, mit der Kundin herzhaft gelacht!
Bei so viel gelebter Zwischenmenschlichkeit spielen die Stunden der konzentrierten Arbeit fürs abendliche Wohlgefühl oft nur die zweite Geige. Und genau dieses Miteinander vermissen wir im Home Office schmerzlich.
Diese Schmerz hat einen Namen: Trauer.
Trauer ist der Definition nach eine gesunde Reaktion auf einen schmerzhaften Verlust.
Und hier tut sich ein interessantes Spannungsfeld auf: Trauer und Depression wirken auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Doch Depression ist ein behandlungswürdiger Zustand, während Trauer gesund ist. Es ist sogar so, dass Sie von verdrängter Trauer krank werden können. Geben Sie Ihrer Trauer Raum. Bleiben Sie einfach vor dem kalten Tee sitzen und starren Löcher in die Luft. Es ist okay. Mehr als das: es ist gesund.

Trauer? Vielleicht.

Verwirrend? Ja.
Trauer und Depression sind zwei ungleiche Schwestern, sie haben Ähnlichkeiten, sie haben Eigenheiten und sie brauchen beide ihr eigenes Verständnis.
In Deutschland wird Trauer noch oft mit Depressionen verwechselt, nicht nur von den Trauernden selbst, sondern auch von Ärzten und Therapeuten. Trauer wurde in Deutschland nach den zweiten Weltkrieg kollektiv weggeschoben. Nicht aus Unwissenheit, sondern aus der Notwendigkeit, das Leben auch ohne Vater, Bruder oder Sohn, ohne Heimat, die vertrauten Familienmitglieder und mit schweren seelischen Verletzungen wieder aufbauen zu müssen.
Wir Deutschen sind eine Nation, die ihre Trauer bis zum Trauma verdrängt hat. Dies erkennt man an der Härte und Gefühlskälte vieler Kriegserfahrener. Sie hielt noch in der Generation der Kriegskinder an und löst sich nun langsam, wo wir, die Enkel und Urenkel, nicht mehr in dem Gefühlsvakuum unsere Eltern und Großeltern leben möchten.
Daher ist unser gesellschaftliches Wissen um Trauer noch recht gering, so, als würden wir gerade erst beginnen, sie zu entdecken. Es fällt z.B. gerade älteren Menschen schwer, auf Trauernde zuzugehen. Mehr als ein stockiges: „Mein herzliches Beileid!“ bekommen sie nicht raus. Der Anspruch, Trauernde mögen sich zusammenreißen, wird noch heute von so manchem Weißhaarigen formuliert. Das Herz zu öffnen und Trauernden mit Mitgefühl zur Seite zu stehen, gelingt ihnen oft nicht.
Es fällt auch Jüngeren nicht immer leicht auf Trauernde zuzugehen. Deutlich sehen sie den Schmerz in den Augen der Trauernden. Aber viele Jüngere laufen nicht weg. Sie bleiben stehen und halten den Blick aus. Sie finden warme, vielleicht unbeholfene Worte. Das ist mehr als viele Eltern und Großeltern je geschafft haben.
Das ist gut. Ein guter Anfang.

Eine zweiter Diagnoseversuch

Solang Trauer noch zwischen Verdrängung und Unwissenheit verdeckt liegt, ist es schwer sie zu erkennen, wenn sie nicht in Verbindung mit dem Tod einer nahen Person auftaucht.
Woran könnte ich erkennen, dass die Home Office-Lähmung auch Trauer ist?
Den ersten Schritt sind wir bereits gemeinsam gegangen: Zugeben, dass nicht alles super ist.
Verschaffen Sie sich ein Überblick, welche Symptome Ihr Unwohlsein hat: Skizzieren Sie, was Ihnen gerade zwischen Antriebslosigkeit und Konzentrationsschwäche auffällt. Was klappt gerade nicht? Wo entspricht Ihr physischer und psychischer Zustand nicht Ihren Erwartungen? Bitte schreiben Sie, bevor Sie weiterlesen, mal fünf, sechs Punkte auf. Dazu noch eine Notiz, was Sie vermissen.
Getan? Gut, dann kann ich Ihnen sofort die Auflösung geben:
In Trauer können wir klar sagen, was uns fehlt. Es ist etwas, was in der Vergangenheit da war und zu unserem Leben gehörte. Die Depression fühlt sich dagegen richtungslos an. Es fühlt sich an, als käme sie grundlos. Trauer ist ein Zustand der neben Schwäche und Leere auch energiereiche Momente hat. Viele Trauernde werden z.B. bei Sinnfragen hellhörig. Sie fragen sich: Ist das mein Leben? Was passiert hier? In diesen Momenten spüren sie Neugier. Wenn Sie diesen Artikel bis hier wach gelesen und sogar die kleine Aufgabe erledigt haben, könnte das ein Zeichen Ihrer Neugier und Lebendigkeit sein.
Auch an der Art, mit erhöhten Anforderungen umzugehen, lässt sich der Unterschied zwischen Trauernden und Depressiven gut erkennen.
Fiktiver Ausgangspunkt: Sie müssen nächsten Mittwoch Ihre Arbeitsergebnisse vor 20 Personen präsentieren. Diese Aufgabe ist für Trauernde und Depressive vergleichbar schwierig. Eine depressive Person würde vielleicht denken: „Oh Gott, das schaffe ich nie.“ Eine depressive Verstimmung führt eher zu Selbstzweifeln. Trauernde hingegen haben oft einen Moment von Selbstsorge in ihrer Ablehnung. Vielleicht so: „Präsentation am Mittwoch? Oh, bitte ohne mich. Das sinnlose Theater würde ich mir gerne ersparen.“
Wenn nun ein Kollege anruft und sagt: „Ich übernehme die Präsentation.“ wäre das ein Moment, wo die Depressiven sich oft noch stärker vom Versagen verfolgt fühlen. Trauernde können solche Angebote meist erleichtert, vielleicht sogar freudig, annehmen. Dankbarkeit kann den Moment erhellen. Diese Gefühlsbreite wäre für Depressive eher untypisch.

So darf es sein

„Es ist Trauer. Es ist okay, wenn Du Deinen Alltag jetzt nicht wie sonst geregelt bekommst!“
Diese Botschaft ist für viele Trauernde wichtig. Ganz einfach, weil Trauer in unserer Gesellschaft oft unerkannt bleibt und viele meinen, funktionieren zu müssen.
Nicht alle Trauernden wissen, dass sie trauern.
Trauernde, denen ihre Trauer bewusst ist, haben oft ein gutes Gespür für Selbstsorge. Kochen sich irgendwann einen frischen Tee, bleiben am Küchentisch sitzen und wissen: „In diesen Zeiten darf man dem Spüren, dem Verlust, der Unfassbarkeit Raum geben. Man, nein, ich, darf hier einfach sitzenbleiben. Alles andere wäre für mich gerade nicht angemessen.“
Darf ich mich zu Ihnen setzen? Trinken wir den nächsten Tee gemeinsam?

Ich freue mich über eine Rückmeldung an: cm@meder.de – vielen Dank!